Sommersemester 2007

Dipl. theol. Georg Raatz (Universität Rostock)

Theologie als Tiefenhermeneutik von Kultur - wissenschaftssystematische Überlegungen im Anschluss an Paul Tillich

14. Juni 2007, 19:30 Uhr

Die Frage nach der Funktion und nach dem Wissenschaftsstatus der Theologie wird seit ca. 150 Jahren mal mehr mal weniger energisch diskutiert. Nach dem Zusammenbruch des 2. deutschen Kaiserreiches und der damit verbundenen verfassungsrechtlichen und kulturellen Krise des Protestantismus entbrannte diese Frage aufs neue. Die Texte Paul Tillichs (1886-1965) aus den Jahren nach 1917 dokumentieren den Versuch eines der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, dieser Krise theoretisch auf höchstem Niveau zu begegnen. In dieser Zeit entwickelt Tillich eine allgemeine Wissenschaftslehre und wissenschaftstheoretische Grundlegung der Theologie. Bereits in frühen Schriften dokumentiert sich seine Tendenz zum System, bevor es dann in den Jahren 1919 – 1925 in verschiedenen Stufen ausgearbeitet wird. Der Vortrag widmet sich nicht vorrangig dem reifen Entwurf im „System der Wissenschaften“ von 1923, sondern stellt die erst vor einigen Jahren veröffentlichten Berliner Vorlesungen von 1920 zur „Encyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft“ und „Religionsphilosophie“ in den Mittelpunkt der Untersuchung. Die Bedeutung gerade dieser Texte besteht darin, dass in ihnen die Begriffe  ‚Kultur’ und ‚Kulturwissenschaft’ zu Zentralkategorien erhoben werden, die auch in den aktuellen Debatten der letzten 20 Jahre das gesellschafts- und geisteswissenschaftliche Paradigma abzulösen begonnen haben. Jedoch besteht derzeit gerade in der Theologie eine diffuse Uneinigkeit darüber, wie das Verhältnis von Religion und Kultur bzw. Theologie und Kulturwissenschaften zu bestimmen sei. Die Debatte krankt vor allem an einer mangelnden religions- und kulturtheoretischen Prinzipienreflexion, die allererst die Klärung der wissenschaftssystematischen Stellung der Theologie möglich macht. Genau hier liegt die Stärke des Konzeptes von Paul Tillich. Der Vortrag soll in diesem Sinne auch dazu dienen, Tillichs Beitrag zu diversesten aktuellen Fragen an die Theologie zu evaluieren.

 

Prof. Dr. Franz-Josef Holznagel (Institut für Germanistik, Universität Rostock)

mouvance. Die handschriftliche Varianz mittelalterliche Texte als methodische Herausforderung

24. Mai 2007, 19:30 Uhr

Michel Foucault hat anhand einer berühmten Stelle aus Hieronymus' »De Viris illustribus« herausgestellt, dass der Bezug auf einen Autor vor allem die Funktion übernimmt, ein konstantes stilistisches, inhaltliches und formales Niveau zu garantieren und einen bestimmten begrifflichen Zusammenhang zu präsentieren, um auf diese Weise den mit seinem Namen markierten Diskurs als nicht-alltäglich und kulturell bedeutsam auszuweisen. In dem Begriff des Autors wird also wesentlich mehr als nur die Vorstellung des Texterzeugers mitgedacht; der Hinweis auf die Autorschaft ist vielmehr in der Regel mit Fragen der Geltung und Wertung verbunden.

Versucht man indes diese emphatisch aufgeladene Autor-Werk-Relation auf die Textwelten des deutschsprachigen Mittelalters anzuwenden (so wie dies die Editionsphilologie in der Nachfolge von Karl Lachmann getan hat), dann ergeben sich sowohl in Bezug auf die Autor- als auch auf die Werkvorstellung enorme Schwierig­keiten:

So weist die Überlieferung deutschsprachiger Texte zwischen dem 8. und 16. Jh. nur im Ausnahmefall die konsequente Bindung eines Textes an einen Verfasser auf; statt dessen lassen sich immer wieder Zuschreibungsdivergenzen sowie das Nebeneinander von autorbezogenen und nicht-autorbezogenen Tradierungsformen beobachten. Hinzu kommt, dass die Autornamen die Funktion von Gattungstermini oder Textsortenbezeichnungen übernehmen können, so dass sie in diesen Fällen lediglich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten literarischen Strömung und ihren charakteristischen Schreibweisen signalisieren als die Urheberschaft einer bestimmten historischen Person.

Aber selbst in streng autorbezogenen Typen der Überlieferung divergiert das literarische Profil der unter dem gleichen Autornamen tradierten Œuvres oftmals sehr deutlich, weil in ihnen die Anzahl und die Abfolge der Texte stark voneinander abweichen und die Texte selbst durch gravierende Varianzerscheinungen gekennzeichnet sind, die vom schlichten Austausch schmückender Beiwörter bis hin zu regelrechter Fassungsdifferenz reichen.

Der Vortrag verfolgt zwei Ziele. Zum einen soll an einigen Beispielen das Spektrum der autorbezogenen wie nicht-autobezogenen Tradierungsweisen mittelalterlicher Texte in deutscher Sprache sowie ihrer  mouvance, ihrer für mittelalterliche Überlieferungsverhältnisse typischen »Beweglichkeit« und Variabilität, vorgeführt werden. Zum anderen sollen die methodischen Schwierigkeiten beschrieben werden, die sich aus diesen Tradierungsgegebenheiten für die Edition, die Interpretation und die literaturhistorische Einordnung von Texten ergeben.

Literatur zum Thema: 
Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1979 (= Ullstein Materialien). S. 7-31; Zumthor, Paul: Introduction à la poésie orale. Paris 1983. Deutsch unter dem Titel: Einführung in die mündliche Dichtung. Aus dem Französischen übersetzt von Irene Seile. Durchgesehen von Jacqueline Grenz. Berlin 1990;  Müller, Jan-Dirk: Auctor – Actor – Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters. In: Ingold, Felix Philipp / Wunderlich, Werner (Hrsg.): Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. St. Gallen 1995. S. 17-31; Tervooren, Helmut / Wenzel, Horst (Hrsg.): Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Berlin 1997 (= Zeitschrift für deutsche Philologie 116. 1997. Sonderheft); Andersen, Elisabeth [u.a.] (Hrsg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Akten des XIV. Anglo-deutschen Colloquiums zur deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1998; Peters, Ursula (Hrsg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Stuttgart, Weimar 2001 (= Germanistische Symposien. Berichtsbände. 23).

 

Prof. Dr. Olaf Wolkenhauer (Lehrstuhl für Systembiologie und Bioinformatik, Universität Rostock)

Modelle lebender Systeme: Wie genau sollten wir sein? - Überlegungen im Anschluß an Bohm und Schopenhauer

3. Mai 2007, 19:30 Uhr

Was unterscheidet ein lebendes System, d.h. eine biologische Zelle oder ein Gehirn, von einem Computer bzw. einer physikalischen Maschine? Die Systembiologie ist ein neuer Forschungszweig, in der zellbiologische Prozesse mit system-theoretischen Methoden beschrieben werden. Im Rahmen des Kaminabends werde ich einen philosophischen Rahmen skizzieren in dem mathematische Modelle biologischer Systeme erstellt und deren Grenzen untersucht werden.

 

Prof. Dr. Dieter Hoffmann (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin)

Pascual Jordan - Der gute Nazi

19. April 2007, 19:30 Uhr

Pascual Jordan zählt zu den herausragenden Physiker des zwanzigsten Jahrhunderts, der Pionierbeiträge zur Entwicklung von Quantenmechanik und Quantenfeldtheorie geleistet hat. Ist seine Pionierrolle in der Geschichte der modernen Physik unter Physikern und Wissenschaftshistorikern unstrittig, so waren und sind seine Bekenntnisse für den Nationalsozialismus und das Dritte Reich, wie auch sein politisches Engagement in der frühen Bundesrepublik Gegenstand gleichermaßen intensiver wie kontroverser Diskussionen. Der Vortrag wird sich insbesondere mit Jordans Biographie im Dritten Reich, wo er als Professor an der Rostocker Universität wirkte, beschäftigen und zudem analysieren, wie nach dem zweiten Weltkrieg ein Umschreiben der Biographie im Sinne technokratischer Unschuld versucht wurde.