Wintersemester 2009/10

Dr. Dr. Dieter Suisky (Humboldt-Universität zu Berlin)

Euler als Physiker. Über Eulers Theorie der relativen Bewegung

19. November 2009, 19:30 Uhr

Leonhard Euler (1707–1783) dominierte nicht nur die Entwicklung der Mathematik nach Newton and Leibniz, sondern auch die Ausbildung der nachnewtonschen Physik im 18. Jahrhundert.     

Im Vortrag wurde gezeigt, dass Euler eine Theorie der relativen Ruhe und Bewegung von Körpern entwickelte, wobei er konsequent Postulate über die relative Bewegung von Zuschauern einbezieht, welche die Bewegungen der Körper beobachten und beschreiben. Wesentliche Aspekte der Eulerschen Theorie, insbesondere die Priorität der Relativbewegung, werden später von Mach, ohne dass Mach auf Euler Bezug nimmt, erneut diskutiert. Andere Teile der Eulerschen Theorie, so die analytische Darstellung der Relativbewegung und die Forminvarianz der Bewegungsgleichungen, werden erst durch Einstein wieder zu Grundlage der Theorie gemacht, verallgemeinert und übertroffen.    

Euler steht am Anfang einer Entwicklung in der Mathematik, die über Lagrange und Cauchy bis zu Weierstraß führte. Ebendies gilt für die physikalische Theorie, der Euler in der Mechanik oder der Wissenschaft von der Bewegung (1736) mittels des Leibnizschen Differentialkalküls eine neue Gestalt gab, die als analytische Mechanik über Lagrange, Jacobi und Hamilton schließlich das Bild der Physik im 20. Jahrhundert bestimmte. Euler entwickelt in der Mechanik ein Programm, das er mit der Anleitung zur Naturlehre (1746, publiziert jedoch erst im Jahre 1862) und der Theorie der Bewegung fester und starrer Körper (1765) fortführt.    

Die Verdienste seiner Vorgänger Newton und Leibniz würdigend, betont Euler: „Leibniz sind wir hingegen nicht weniger verpflichtet. Er brachte nämlich diesen Kalkül, den man bis dahin bloß als einen besonderen Kunstgriff betrachtet hatte, in die Form einer Wissenschaft, bildete aus den Regeln derselben ein System und stellte dasselbe in hellem Lichte dar. Hierdurch bekam man die schätzbarsten Hilfsmittel, denselben zu erweitern und das Fehlende, aus gewissen Prinzipien abgeleitet, hinzuzufügen. Bald darauf wurde durch die Bemühung Leibnizens und der von ihm dazu ermunterten Bernoullier (...) auch ein fester Grund zur Integralrechnung gelegt, auf welchem die folgenden Architekten das angefangene Gebäude immer mehr erweiterten und ausführten.“ (Anleitung zur Differentialrechnung, 1748)   

Was Euler über Leibniz sagt, können wir mit Fug und Recht auch über Eulers physikalische Werke sagen. Eulers Verdienst liegt in dem Übergang von der Newtonschen geometrischen zur konsequenten analytischen Darstellung der Mechanik.    

“Die Versuche, die Newton und Johann Bernoulli, Varignon und Hermann nach dieser Richtung hin gemacht hatten, stehen weit zurück hinter der Neugestaltung, die wir Euler verdanken.” (Stäckel (1912), Vorwort zu Opera Omnia VI, 1)   

Euler war jedoch nicht nur der überragende Mathematiker des 18. Jahrhunderts (Lest Euler, lest Euler. Er ist unser aller Meister! (Laplace)), sondern fügte das mathematische und physikalische Denken zu einer Einheit zusammen, indem er die physikalischen Gesetze mit mathematischer Strenge formulierte und die mathematischen Grundbegriffe den physikalischen Modellen anpasste. Nach dem Urteil seiner Zeitgenossen führt Euler die Physik über den Newtonschen Rahmen hinaus. Dies zeigt sich ebenso in seiner Wellentheorie des Lichts, der Theorie achromatischer Linsen und insbesondere in einer konsequenten Theorie der relativen Bewegung. Obwohl die Kritik der Newtonschen absoluten Bewegung später von Mach (1883) und Einstein (1905) wieder aufgenommen und fortgeführt wird, findet sich bei keinem der Autoren ein Bezug auf Eulers Anleitung zur Naturlehre (1862). Im 19. Jahrhundert wurde Euler wohl vorwiegend als Mathematiker gesehen.    

Die Verdienste Eulers werden umso deutlicher, wenn man bedenkt, daß bei Mach die Fortschritte in der analytischen Darstellung der Mechanik nicht den Rang von neuen Prinzipien haben. Bei Helmholtz (Vorlesungen, 1893) findet sich kein Hinweis auf die Machsche Kritik der absoluten Bewegung. Erst Einstein verbindet ein neues physikalisches Prinzip, die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, mit einer analytischen Darstellung der relativen Bewegung.    

Euler ist nicht nur deshalb erfolgreich, weil er die Neugestaltung der Mechanik mit einer neuen Begründung der Differentialrechnung verbindet (Anleitung zur Differentialrechnung, 1748), sondern weil er die Newtonschen und vor allem die Leibnizschen methodologischen Prinzipien, wie die Deduktion von Sätzen aus Axiomen, den Satz vom Widerspruch, das Kontinuitätsprinzip und das Prinzip des zureichenden Grundes, umformt und den Erfordernissen der Physik anpaßt. Eine Schlüsselstellung nimmt der Nachweis ein, dass die neuen analytischen Methoden ebenso exakt und zuverlässig sind wie die vormals verwendeten, die auf der Geometrie beruhten. Noch vor Kant untersucht Euler die verborgenen Antinomien innerhalb des „Leibniz-Wolffischen Lehrgebäudes von den Monaden“, exemplifiziert für die Postulate über die Teilbarkeit der Körper und die Kräfte. Zu diesem Zwecke, die Konsistenz einer Theorie zu untersuchen, fordert Euler die Philosophen und Physiker auf, eine angemessene Sprache zu entwickeln, die den Erfordernissen der Wissenschaft gerecht wird.